Im ersten Teil ging es um die Lokalisierung der Stelle und was eine Einwirkung auf einen Punkt bedeutet. 

Wir haben uns am Beispiel von Lunge 8 die Stelle am Handgelenk genauer angeschaut, was für Strukturen dem Akupunkturpunkt zugrunde liegen und wie die richtige Manipulation auf Nervenebene funktioniert.

Dieser auf den einzelnen Punkt konzentrierte Blick geschieht zu großen Teilen durch eine anatomische Brille. Jetzt verlassen wir die Welt der Anatomie und versuchen Beziehungen, zu weiteren Punkten und anatomisch empfindlichen Stellen zu finden.

Für die weiteren Dimensionen des Kyusho bietet es sich an die Brille zu wechseln. Die Prinzipien der traditionell chinesischen Medizin (TCM) ermöglichen durch ihren Symbolcharakter und ihre Prinzipienlehre Beziehungsgeflechte im Akupunktursystem aufzubauen. Alles gehört zusammen und befindet sich in einer ständigen Wechselwirkung.

Doch einen Schritt nach dem anderen.

Ich bin ein großer Verfechter von Einfachheit. Zunächst muss alles ohne großartige Theorie und Erklärungsversuche funktionieren. Diese Einfachheit muss sich später in einem komplexen und überschneidungsfreien Theoriegebäude wiederfinden und bestätigt werden. 

Legen wir also los. Lunge 8, eile herbei, ich brauche dich!

Dimension 2 – Kinesthetic Response oder Wahrnehmung der Körperreaktion

Ich denke, wir sind uns alle einig, wenn ich sage, dass Kämpfen etwas Schnelles ist. Reaktion und Aktion folgt in rascher Folge. Man hat kaum Zeit großartig nachzudenken und sich einen todsicheren Plan zurechtzulegen.

Also muss Kyusho unter diesen Bedingungen funktionieren. Tut es nicht? Das ist die weitläufige Meinung! Wer hat schon Zeit und gar zu Schweigen die Präzision einen kleinen Punkt im Kampf zu treffen?!

Hier kommt die zweite Dimension der Kyusho Theorie zum Einsatz.

Kinesthetic Response macht den Kampf bzw. etwas kleiner gedacht, die Reaktionen des Gegners vorhersagbar. Und jede Reaktion des Gegners eröffnet oder präsentiert uns neue empfindliche Kyusho Punkte.

Die Manipulation von Lunge 8 wirkt sich gleich mehrfach auf den Gegner aus.

  • Der Griff wird locker
  • Das Handgelenk verliert an Stabilität
  • Je nach Manipulation beugt sich der Ellenbogen
  • Die Schulter kommt nach vorne
  • Der Oberkörper dreht sich ab
  • In vielen Fällen beugen sich die Knie
  • Der Kopf kommt leicht gedreht nach vorne

Mit diesem Wissen lässt sich der Kampf um einiges leichter kontrollieren. Durch eine Drehung des Oberkörpers nehme ich die andere Hand kurz aus dem Spiel. Weiche Knie bewegen sich nicht sonderlich schnell und ich kann mich neu positionieren. Durch die gelockerte Hand kann ich mich bei Bedarf aus einem Griff befreien. Und da der Kopf mehr entgegenkommt, kann ich gezielt den Kopf angreifen. 

Nur durch Dimension 1 (Area Control) und Dimension 2 (Kinesthetic Response) kann ich meine Kampfkunst schon toll mit Pressure Points aufmotzen, ohne groß in irgendeine „mystifizierte“ Symboltheorie einzutauchen. Auch zeigt sich hier bereits, dass eine energetische Lehre nicht zwingend herangezogen werden muss, um Kyusho zu erklären oder zu beweisen. Die Reproduzierbarkeit der Körperreaktionen auf die Punkte ist mehrheitlich gleich. Lunge 8 wird in den meisten Fällen immer zu den oben beschriebenen Körperreaktionen führen.

Für diejenigen, die es noch einfacher möchten. Kinesthetic Response bedeutet ebenfalls, wenn wir es gänzlich herunter brechen. Schlag eine Stelle – als Reaktion wird sich etwas verstecken und etwas zeigen – Schlag das, was sich zeigt. Super simpel!

Nachdem das geklärt wäre, verlassen wir das gewohnte Terrain der Körperreaktionen und bewegen uns in die Dimensionen mit anderer Brille.

Jetzt wird es darum gehen, warum diese Reaktionen entstehen.

Dimension 3 – Systemic Compromise oder Kompromittierung des Systems

Bleiben wir beim Beispiel von Lunge 8. Wir manipulieren wie die Wilden drauf los und der Körper reagiert. Soweit so klar!

Doch die Reaktion ist nur der äußere Ausdruck von etwas, das im Körper entsteht oder in unserem Fall falsch läuft. Der Körper des Gegners/Partners wird in seinem Gleichgewicht gestört (kompromittiert).

Wer seine Hausaufgaben am Anfang vielleicht etwas zu gründlich gemacht hat, weiß womöglich schon, dass Lunge 8 dem Meridian Lunge angehört. Ein Meridian ist eine Art Energie-Autobahn für unsere Lebensenergie „Chi“. Neben dem Transport von Energie in unserem Energiekreislauf hat der Lungen-Meridian auch eine direkte Verbindung zum gleichnamigen Organ.

Das klingt jetzt nicht wirklich schwer oder kompliziert. Eher ist es offensichtlich, meinst Du nicht auch? Die Schwierigkeit besteht hier nicht im Verständnis, sondern im sich darauf Einlassens.

Gehen wir davon aus, wir sind jetzt einmal offen dafür, in Ordnung.

Eine Manipulation von Lunge 8 stört den Lungen-Meridian. Es bildet sich ein Stau in dem Punkt. Immerhin quetschen wir ja drauf rum. Und der Meridian wird durch diese Störung geschwächt. Die Konsequenz ist, dass alle weiteren Punkte des selben Meridians ebenfalls geschwächt werden und so um ein vielfaches anfälliger sind. Daraus ergiebt sich das Prinzip des Meridians. Greife Punkte entlang des selben Meridians an. Die Kombination von Lunge 8 und Lunge 5 hat schon viele in die Knie gezwungen und sogar neuronal ausgeknipst. Ich garantiere für tolle Effekte. ;-)

Doch eines dürfen wir nicht vergessen. Die direkte Verbindung zum Organ selbst. Wird der Meridian gestört, reagiert der Körper mit einem Schutzreflex. Erinnerst Du dich noch? Eines der Körperreaktionen war, dass sich der Oberkörper abdreht und der Kopf nach vorne kommt. Der Körper bringt also reflexartig die Lunge aus der Schussbahn.

Damit wären wir an dem Punkt, wo wir verstehen können, dass ein einzelner Punkt in seiner individuellen Leitbahn einen störenden Effekt hat.

Doch die krassen Streber unter euch wissen, dass es ein paar mehr Meridiane gibt. Wie die Beziehungen untereinander aussehen, kommt jetzt.

Dimension 4: Relational Artifact oder Beziehungsartefakte

An dieser Stelle muss ich mich ausdrücklich entschuldigen. Die Dimensionen sind natürlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich selbst habe sie von tollen Lehrern und Weggefährten gelernt. Also liegt die Schuld der Namensgebung nicht bei mir!

Was möchte ich mit Beziehungsartefakt also sagen? Artefakt ist an dieser Stelle etwas künstlich Hervorgerufenes. Zusammengesetzt heißt dies demnach eine künstlich hervorgerufene Beziehung.

Beziehungsaspekte werden in der TCM durch unterschiedliche Prinzipien erklärt. 

  • Tageszeitenzyklus
  • Prinzip von Yin & Yang
  • 5 Elemente Theorie

Jedes dieser Prinzipien wird an anderer Stelle seinem Stellenwert entsprechend einen eigenen Beitrag erhalten.

Hier schauen wir uns wieder unser Beispiel an. Lunge 8 erscheine!

Der Tageszeitenzyklus

Der Tageszeitenzyklus beschreibt in aller Kürze den Energiefluss des Körpers, sowie die Energiehochstände und -Tiefstände zu bestimmten Tageszeiten. Für uns relevant ist der Energiefluss. Die Energie verläuft vom Leber-Meridian zum Lungen-Meridian weiter zum Dickdarm-Meridian.

Greife ich also Lunge 8 an, entsteht hier wie bereits erwähnt dieser ominöse Energiestau. Mache ich also den Schlauch zu, fließt keine Energie mehr zum nächsten Meridian (Dickdarm). Ein unterversorgter Meridian ist ein geschwächter Meridian.

Erinnern wir uns an die Körperreaktion, so rekapitulieren wir, dass der Kopf nach vorne kommt und sich leicht dreht. Seitlich am Hals verläuft der Dickdarm-Meridian und präsentiert sich als fantastisches Ziel.

Das Prinzip von Yin & Yang

Das Prinzip von Yin & Yang ist sicherlich vielen bekannt. Die Dualität der Dinge. Alles existiert paarweise. So auch der Lungen-Meridian. Der Bruder-Meridian von Lunge ist Dickdarm. Zwar greift auch hier wieder der Tageszeitenzyklus, aber die Erklärung von Yin & Yang ist keine Schwächung aufgrund von Unterversorgung, sondern eine Heldengeschichte. 

Normalerweise gehen Bruder und Schwester gemeinsam durch schwere Zeiten. Sie unterstützen einander. So verhält es sich auch hier. Wird Lunge 8 angegriffen, liefert der Dickdarm-Meridian energetische Unterstützung. Verschiebt also seine Energie um zu helfen und bleibt schutzlos zurück. Dadurch werden alle Punkte des Dickdarm-Meridians empfindlicher. 

Du könntest hier das Beispiel von oben nehmen, Dopplungen finde ich aber blöd. Die Kombination von Lunge 8 und Dickdarm 10/11 ist ein Knüller! Braucht aber etwas Training für fatale Effekte.

Die 5-Elemente-Theorie

Jetzt werden wir zum Metallbändiger. Das letzte Beziehungsartefakt, was ich in diesem Beitrag aufgreifen werde, ist die 5-Elemente-Theorie.

Jedem Meridian ist ein grundlegendes Element zugeordnet. Im Fall von Lunge ist es Metall. Verstehe das bitte nicht falsch. Der Meridian besteht genauso wenig aus Metall, wie die Lunge selbst. Es geht hier um eine Beziehung in einem Erklärungsgebäude, dass mit einfachen Symbolen Komplexität abbilden möchte.

Metall jedenfalls hat einen Hass auf Holz. Nein, Hass ist falsch. Die Axt ist halt einfach dafür gemacht Holz zu hacken. Das Element Holz finden wir beim Gallenblasen Meridian und Leber-Meridian.

Das Prinzip klingt jetzt eher wenig heroisch. Durch die Manipulation von Lunge 8 transferiere ich „negative“ Energie in den Punkt und somit in den Körper meines Gegenübers. Diese Energie muss irgendwo hin. Und der Lungen-Meridian nutzt als Metall-Element hierzu das Holz-Element. Die „Mülleimer“-Meridiane für Lunge ist demnach Leber und Gallenblase.

Ich könnte jetzt von der Kombination Lunge 8 und Gallenblase 20 sprechen. Ich möchte dich aber lieber auf etwas anderes Hinweise. Die Körperreaktion von Lunge 8 ist in vielen Fällen ein leichtes Beugen der Knie. Am Knie verlaufen auf der Innenseite der Leber-Meridian (Le 7, 8 & 9) und der Außenseite der Gallenblasen-Meridian (GB 33 & 34). Die Körperreaktion lässt sich auf die 5-Elemente-Theorie zurückführen.

Jetzt konnten wir anhand von Lunge 8 einmal alle relevanten Grundlagen des Kyusho durchgehen. Weil es doch einiges war, hier eine kleine Zusammenfassung in Karteikartenformat:

Damit geht der spannende Zweiteiler zu Ende. Ich hoffe, ich konnte dich ein wenig für die Kyusho Theorie begeistern und einen systematischen Blick eröffnen. 

Die Dimensionen bilden das Fundament für jede gute Kyusho Forschung. Damit ist natürlich noch nicht alles gesagt und ich habe einige Besonderheiten und das Prinzip der Spezialpunkte ausgeblendet. Dafür kommt sicher auch noch die Zeit.

Jetzt wünsche ich dir viel Spaß beim Training und deinen eigenen Rückschlüssen auf die Theorie.

Insight Kyusho

by Basty

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2 Comments

  1. Michael vom Ammersee 17. Dezember 2021 at 13:58 - Reply

    Schöner „Zweizeiler“! Mir gefällt dein lockerer, teils selbstironischer Schreibstil – weiter so! Ansonsten toll erklärt, aufgebaut und nachvollziehbar. Prima!

    • Basty 17. Dezember 2021 at 14:18 - Reply

      Danke dir, Michael. :-D

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